Textfassung der Audiodateien
„Ich finde es absolut nicht tolerant hier“
Lotte Birgin
Lotte Birgin wurde 1953 in Singen am Hohentwiel geboren. Sie wohnte von 1985 bis 2006 in Weingarten und machte dort beim Stadtteilradio mit, das Anfang der 90er Jahre bei Radio Dreyeckland ausgestrahlt wurde. Stadtweit engagierte sie sich im Bereich Bildung, Schule und Migration. Heute lebt sie in einem kleinen Haus im Mooswald am Seepark. Im Interview spricht sie über Formen der Vielfalt und Grenzen der Toleranz und des Kontakts, die sie zwischen den Leuten erlebt hat und schwärmt von ihrem Lieblingsort – dem Markt.
Es war das Jahr 1985 – riesen Beziehungsscheiterung, alles Trennung. Da bin ich von Littenweiler, Kirchzarten in die Krozinger Straße 5 in den 6. Stock gezogen. In eine Frauen-WG. Erst mit Kindern, später sind die Kinder zum Vater. Da fing es eigentlich auch schon an. Meine Kinder waren Jungs, 12 und 10 Jahre. Sie sind in die Staudinger Gesamtschule gegangen, das hatten wir aus ideologischen Gründen so entschieden. Aber der älteste ist ziemlich sensibel, der konnte hier nicht wohnen. Als er das erste Mal runter auf die Straße ist, da wurde er gleich angepöbelt: Was willst du denn? Wer bist du denn? Und auch zusammengeschlagen. Diese ganzen Cliquen, die sich die Höfe als Revier nehmen, die haben ihn erst mal erprobt und das fand er nicht so gut. Dann stand er immer oben am Fenster und hat raus gestarrt und gesagt, er will wieder zurück. Sein Vater war in die Wiehre gezogen und dann ist er zwei Jahre später zum Vater. Da haben wir immer heiße Diskussionen geführt. Weil ich gesagt habe: „Dann müsstest du doch auch aus der Staudi raus, da sind doch auch diese Leute!“Aber da war es halt gemischt. Da waren ganz unterschiedliche Kinder und hier war er halt in einer andern Klientel.
Mein Stück Heimat – der Markt
Aus dem Bett fallen, vorm Kaffee frische Sachen holen und dann frühstücken – das war Lebensqualität! Und von daher war von dieser Wohnung aus, die direkt über dem Marktplatz liegt, der Markt mein Lieblingsplatz. Man trifft viele Leute, aber nur oberflächlich. Man hat so eine Heimat, die man, wenn man in dieses Betonviertel kommt, eigentlich nicht hat. Damals in den 80ern kannte ich schon viele Leute. Aber man trifft sich nicht. Auf dem Markt trifft man sich und da kann man so schön oberflächlich bleiben.Wenn du nicht da bist, bist du gestorben oder krank, wenn du da bist, bist du herzlich.
Und es hat auch so was natürliches in diesem Betonviertel. Der Markt ist groß – Massen von Blumen, von Gemüse, von Grün. Im Herbst gibt's den Most, das erinnert mich dann auch ein bisschen an früher, an meine Kindheit. Ich komme vom Bodensee und da gibt’s immer Most. In Freiburg habe ich das immer vermisst und da gab es dann diese Container, wo du was abzapfen kannst – das fand ich klasse.
Der Markt taucht den Stadtteil zweimal die Woche in Farben und Gerüche.
Man wird zusammen alt. Eine Marktfrau kam ganz jung und schwanger, nur mit Brot. Irgendwann weiß man gar nicht mehr, wie viele Jahre sie schon da steht während man so zusammen älter wird und immer ein paar Wörter schwätzt. Man merkt es nur am Stand, der immer länger wird und neben Brot dann Gemüse, Obst, Marmelade und Liköre hat. Und ihre Kinder, die manchmal mithelfen, werden größer und größer. So was hast du in den Läden nicht – das war mein Beziehungsort.
Auf dem Wiehre-Markt schlägt's mich immer zurück. Ich kann dieses alternative Klientel nicht ertragen. Da merk ich auch immer, ich gehöre nicht dazu. Ich liebe Ökoessen, aber hier mag ich die Leute, die hier her kommen – es hat was einfaches, bodenständiges und ehrliches.
Es hat aber auch was traditionelles-konservatives. Die Bio-Bäuerin, die es einmal ein paar Jahre gab, wurde hintenrum von den anderen schwer angegiftet: „Die spritzt doch heimlich!“ Einer verkaufte eine Zeitlang mit einem rechtsradikalen T-Shirt. Wie bei mir zu Hause in der Kindheit. Man ist halt anständig bis reaktionär.
Für eine gewissen Zeit hat die Anonymität des Hochhauses gut gepasst.
Mein Hort war meine Wohnung
Sonst hatte ich in Weingarten wenig Plätze. Es ist eine Schlafstadt, und mein Hort war meine Wohnung. Ich finde alles schrecklich hier. Dieser ganze Beton bedrückt mich. Im EKZ machen immer mehr Spielhöllen auf, aber vorher war es auch nie nett. Beide Wohnungen, in denen ich gewohnt habe, waren wunderschön, das hat mir dann gereicht. Mit ein paar Leuten hatten wir mal überlegt, diese Pizzeria zu mieten und ein tolles Café draus zu machen, aber das hat keinen Sinn. Denn am Anfang hat das Forum ja Feste veranstaltet und da kam niemand. Alle Ausländer waren sowieso weg, von den Deutschen kamen ein paar und solidarische Professionelle hockten tatenlos rum.
Das habe ich öfters erlebt. An Weihnachten haben wir mal ein türkisch-deutsches Bilderbuch vorgelesen: Das Buch in Bildern. Bei Schneefall habe ich gelesen und gleichzeitig wurden die Bilder an die Wand projiziert – es war eine magische Stimmung. Aber da ist fast niemand stehengeblieben – wenige Kinder allenfalls. Es war eine wunderschöne Aktion, aber das müsste man regelmäßig machen, Menschen daran gewöhnen. Das war den meisten zu nah, zu fremd. So sind die Professionellen zu Recht von ihren eigenen Aktionen völlig fasziniert und verlieren den Blick dafür, wie viele Leute wirklich stehen geblieben sind.
Eine Weihnachtsgeschichte. Per Bambini?
Im Forum gab es auch immer die gleiche Clique, die dort aktiv sind und jeden Samstag ins Stadtteilbüro gehen und Kaffee trinken. Da kommt man nicht rein. Das fand ich ganz schwierig. Also ich war menschlich nicht in den Stadtteil integriert, aber ich wusste nicht, wo ich sonst zum Wohnen hin sollte. Ich bin wegen der billigen Wohnungen hingezogen und war auch in einer Lebensphase, wo ich das wollte und die Anonymität suchte. Das passte dann für mich persönlich schon: Einsam wohnen, und arbeiten in anderen Stadtteilen – bis auf das Stadtteilradio Weingarten, aber das waren professionelle Kontakte.
Ich hasse den Stühlinger mit seinen arroganten Intellektuellen, die das alles ganz toll finden im Stühlinger, weil das so ein tolles Mischgebiet ist. Wenn man denen vorschlägt nach Weingarten zu ziehen, dann kriegen die ja schier nen Herzkasper, denn mit denen wollen sie gar nichts zu tun haben. Ich kenne auch Sozialarbeiter aus Weingarten, die in anderen Problemvierteln wohnen und die hier versuchen professionell diese Kontakte zu knüpfen zwischen Oberschicht und Unterschicht, Ausländern und Einheimischen – dass sich alles integriert. Aber in ihrem eigenen Viertel lassen sie ihre Kinder nicht mit den anderen auf der Straße spielen oder verstehen es jedenfalls nur zu gut, dass ihre Kinder mit den „Problemkindern auf der Straße“ nichts zu tun haben wollen. Die tiefe Abwehr der bürgerlichen Mittelschicht gegen die Underdogs, die Festung Europa im Sozialarbeiter. Nach der Grundschule trennt sich die Gesellschaft. Der Professionelle hat privat nichts mit dem Klientel zu tun. Schon da scheitert die Integration.
Kein toleranter Stadtteil
Weingarten ist kein toleranter Stadtteil. Es ist ein multikultureller, ein internationaler Stadtteil, der dadurch nicht per Definition demokratisch, besser oder „gut“ wird. Aber es ist ein guter Anfang. Man gewöhnt sich automatisch an diese Vielfalt. Und das finde ich hier klasse: dass du als älterer eingefleischter Deutscher schon mal visuell an andere Sachen gewöhnt wirst. Aber ich hatte auch Transengruppen bei mir im Haus zu Besuch, was auch schon Überwindung gekostet hat und da sind fünf Leute im Haus aktiv geworden – vom Polen, übern Russen bis zum Deutschen: „Woher kommen diese Männer, die als Frauen verkleidet sind? Zu wem sind die gegangen?“ Der Schutz war eigentlich für die nicht gewährleistet.
Eine ganz klasse Transfrau, wo man es ja ganz anders sieht, hat dann drei Monate bei mir gewohnt und die wurde permanent angegriffen im Edeka – angestarrt und blöd angemacht. Vorher hatte sie in Tiengen gewohnt und da war das überhaupt kein Problem. Die hat's hier wirklich ganz schwer gehabt. Da war jeder Einkaufsgang eine Überwindung. Also ich finde es absolut nicht tolerant hier.
Es ist auch einfach ein Hochhausviertel. Oben ist eine gestorben, die man auch immer freundlich begrüßt hat, aber dann hat man's auch vier Tage nicht gemerkt. Und dass man's überhaupt nach vier Tagen gemerkt hat, war schon ein Wunder.
Andererseits gibt es auch ein Gemeinschaftsgefühl. Gerade als in den 90igern die Häuser von Migranten brannten und der rechte Mob aufmarschierte, da zeigte sich in Weingarten, dass über die Jahre eine Gemeinschaft gewachsen war. Das haben wir bei den Befragungen im Quartier vom Stadtteilradio festgestellt: Ausländische Weingärtner hatten Angst, nach Freiburg zu gehen und blieben in „ihrem“ Viertel, wo sie sich sicher fühlten. Die Stadt war ihnen fremd, Weingarten war ihr Zuhause.
Das Interview führte Anna Trautwein am 30.06.12
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