Textfassung der Audiodateien
„Eine Gesellschaft entscheidet  sich, 
      wo sie miteinander etwas aufbauen kann 
      – und das ist im Augenblick  hier in Weingarten!“
      Dirk Oesselmann
... wurde 1961 in  Nienburg an der Weser geboren. Er arbeitet seit 2008  an der Evangelischen Hochschule in Weingarten und lebt hier auch mit seiner  Frau und seinen drei Kindern. Er ist  im Diakonieverein engagiert, in der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde und in der  Weingarten Arbeitsgruppe Soziales.
      Im  Interview erzählt er, warum er sich als Teil einer bikulturellen Familie in  Weingarten „mittendrin“ fühlt und was er an der ganz normalen Vielfalt schätzt  – die Reibungen, Bewegung, Lebendigkeit und Hilfsbereitschaft.
Die Landung in Weingarten war im September 2008, als ich eine Stelle hier an der Evangelischen Hochschule bekam. Ein Jahr pendelte ich aber noch von Münster nach Freiburg. Als die Schaffner mich schon wieder erkannten, habe ich gesagt: Jetzt geht’s nicht mehr, wir müssen nach Freiburg ziehen.
Dann war irgendwann März und es war alles schon viel zu spät – wir wollten spätestens im August umziehen und suchten verzweifelt nach Häuserangeboten. Wir sind eine große Familie, brauchten also relativ viel Platz, aber das ist in Freiburg rar und teuer. Wir haben gesucht und gesucht, haben uns Häuser in den umliegenden Dörfern angeguckt, die entweder zu weit weg, zu teuer oder zu klein waren. Am ersten Abend haben wir geweint, weil wir nicht wussten, wo wir unterkommen könnten. Am zweiten Tag – wir waren hier in Weingarten – sind wir auf die neue Reihenhaussiedlung gestoßen, beim sogenannten Rosen-Kromer-Gelände, so ist das hier bekannt. Das war genau das, was wir gesucht haben. Wir wussten gar nicht, warum wir da nicht vorher drauf gekommen waren. Dann ging alles ganz schnell. Alles passte und so zogen wir am 19. August 2009 hier nach Weingarten.
Das Haus stand, aber wir hatten kaum Möbel und noch  keine Küche. Zwei oder drei Wochen haben wir nur von Pizza und Pommes gelebt,  selbst unsere Kinder mochten es nicht mehr. Gleich zwei Wochen später kündigte  sich eine 17-köpfige brasilianische Tanzgruppe mit Begleitung an. Die kamen aus  Belem, einer Gemeinde im Norden von Brasilien, wo wir auch mal gelebt hatten.  Sie hatten auf Deutschland-Tournee drei Tage frei und und würden gern nach  Freiburg kommen – ob wir Kost und Logis organisieren könnten? 
        Dann habe ich in der Bonhoeffer-Gemeinde gefragt und  die haben gleich den Gottesdienstraum geräumt und Matratzen zur Verfügung  gestellt. Die Gemeindemitglieder haben Decken und Bettzeug gebracht und es  kamen Essensspenden. Drei Tage haben die hier unterm Kreuz, unterm Altar  gewohnt und gekocht und von da aus haben wir unsere Unternehmungen gemacht. Sie  haben in der Schule und in der Evangelischen Hochschule getanzt und was mit den  Konfirmanden gemacht. Das war schön! Solche Erfahrungen nähren das Gefühl, dass  man hier spontan die Leute überfallen kann und sie gehen sehr freundlich, offen  und bereit damit um.
Als bikulturelle Familie in Weingarten
Wir sind eine bikulturelle Familie. Ich selbst habe  sehr lange Jahre in Brasilien gelebt, meine Frau ist Brasilianerin, meine drei  Kinder sind in Brasilien geboren und als kleine Kinder nach Deutschland  gekommen. Wir leben sehr stark diese Bikulturalität. Und als wir in umliegende  Dörfer gekommen sind, schöne Orte, wo man gut leben kann, sagte meine Frau zu  mir: „Hier bin ich nicht nur die Zugezogene. Hier werde ich nie ankommen,  hier bin ich immer die Fremde.“ 
        Als wir durch Weingarten gegangen sind, erkannten und  wussten wir auf einmal: Die sind alle genauso wie wir! Nur anders in ihrer Bi-  oder Trikulturalität oder Anderskulturalität. Und deswegen passt das, dass wir  da mittendrin sind. Wir sind hier mittendrin, weil sich hier sehr viel bewegt,  weil wir nicht auffallen, weil wir nichts Besonderes sind, weil wir überall  dabei sein können und dabei sind.
Die Vielfalt wird hier einfach normal gelebt. In der  Klasse von meinem Sohn sind 17 verschiedene Nationen in irgendeiner Weise  präsent. Die sind nicht alle woanders geboren, aber Wurzeln, kulturelle  Eigenheiten in dieser Vielfalt sind da und werden auch bewusst gelebt.
      Hier ist es ganz normal, dass sich ganz viel bewegt,  dass es sich aneinander reibt, dass es verschieden ist, dass man sich manchmal  nicht versteht und dann doch irgendwie versteht.
Bei den Elternabenden hier in der Adolf-Reichwein-Schule ist es manchmal  schwierig, miteinander ins Gespräch zu kommen und doch klappt es immer wieder  und dann ist es etwas ganz Großartiges!
        In Münster waren wir an einer sehr fortschrittlichen  Schule, die ich auch sehr geschätzt habe. Da war das dann so, dass wir abends  um 10 Uhr nach dem Gespräch  zusammen  Zwiebelkuchen gebacken haben, weil wir dachten „Ach jetzt machen wir noch was  Gemeinsames“. Ich bin dann irgendwann nach Mitternacht totmüde nach Hause gekommen. 
        Hier fängt der Elternabend um 19:30 an und um 19:50  fragt der erste Vater, der auch mit anwesend ist: „Wie lange dauert das denn  noch? Ich muss morgen um 4 Uhr raus!“ Dann bricht jemand in Tränen aus, weil  viele so große Last mit sich rum tragen. Sie wissen nicht, ob sie weiter hier wohnen  können, Arbeitslosigkeit, die Sorge, ihre Kinder nicht richtig begleiten zu  können in der Schule – solche Dinge brechen dann raus. Dann gibt es auch wieder  Solidaritätsbekundungen von den anderen, dass man sagt: Vielleicht können  wir uns gegenseitig helfen bei der Kinderbetreuung oder bei der  Hausaufgabenbegleitung.
        Also es geht um ganz andere Sachen als um  Zwiebelkuchen, es ist viel basaler, viel grundlegender. Gleichzeitig kann man  auch spüren, dass es die Bereitschaft gibt, sich gegenseitig zu helfen.
Initiativen im Stadtteil
Ich möchte den Stadtteil nicht idealisieren. Ich bin  ein großer Fan von diesem Stadtteil, ich lebe gern hier, aber es bringt nichts  zu sagen: Hier ist alles besser. Das ist es nicht. Hier gibt es genauso  Querelen und Streitigkeiten miteinander und  die Leute leben auch nebeneinander her. Die Lebensbedingungen der Menschen hier  stehen nur unter teilweise sehr schwierigen Voraussetzungen. Da überrascht es  immer wieder, wie die Menschen Ressourcen freistellen, Dinge aneinander weiterzugeben  und sich zu helfen. Das sind ganz wichtige Anzeichen, die mich optimistisch  machen.
        Ein Beispiel ist hier das Jugendzentrum. Die Arbeit  dort bewundere ich sehr. Das ist wirklich ein Anlaufpunkt für Kinder und  Jugendliche ab 6/7 Jahren, die sich gegenseitig begleiten, sich gegenseitig  Tanzen beibringen und solche Sachen. Dann ist da ein Vater, der Boxtrainig  geben oder einer, der Gitarre unterrichten kann oder sie spielen Theater oder  kochen zusammen. Die Dynamik geht sehr stark von den Kindern und Jugendlichen  zusammen mit ihren Familien aus. Auch die Mütter aus dem Stadtteil sind  eingebunden, finden dort ihren Platz und helfen mit. Da kommt was zusammen, da  entstehen Räume.
      Ein anderes Beispiel sind die internationalen Cafés in der Adolf-Reichwein-Schule. Immer mehr  Mütter kommen aus ihrer Isolierung heraus und organisieren zusammen dieses  Café. Dort können Frauen unter sich Kompetenzen weitergeben, etwas zeigen und  stolz darauf sein. Und gleichzeitig verlieren sie die Angst vor der Kommunikation  mit anderen.
Als Hochschullehrer in Weingarten
Der Bildungsunterschied zwischen mir als Hochschullehrer und einigen anderen Bewohner_innen hier, spielt schon eine Rolle. Aber ich hoffe nicht, dass es so ankommt, dass sich manche mehr oder weniger wert vorkommen. Ich werde eher mal angesprochen, wenn es darum geht, einen Brief aufzusetzen, dass die Lehrerin doch bitte nicht versetzt werden soll. Die Leute wissen, ich kann das mal schnell runter schreiben, während andere sich das erst erarbeiten müssen. Und ich glaube, dass die Leute das gut finden, dass Menschen von der Hochschule auch hier im Stadtteil wohnen. Das holt die Hochschule mehr rein und verankert sie im Stadtteil. Ich hoffe, dass die Leute auch sehen, dass Weingarten eben nicht nur ein Ort für Leute ist, die in Sozialwohnungen wohnen müssen.

      Die Evangelische Hochschule
Es war auch eine sehr bewusste Entscheidung, dass meine Kinder hier in der Schule sind und nicht irgendwo in einer abgehobenen, elitären Schule. Man muss sich eben überlegen, was man für seine Kinder will. Auf der einen Seite will ich nicht, dass meine Kinder nur gesellschaftlich funktionieren und sich etablieren. Natürlich liegt mir daran, dass sie gut klar kommen und gute Perspektiven im Leben haben. Ich glaube aber, dass sie das haben werden, egal wo sie zur Schule gehen. Ich glaube, es ist eine riesige Chance, in dieser Vielfalt zu lernen. Vielleicht ist dann noch der Bedarf da, im Deutschen ein bisschen besser zu werden, weil das eben in der Kommunikation der Kinder unter sich nicht immer so grammatikalisch richtig ist. Das finde ich nicht wichtig. Ich finde es wichtig, dass sie gute soziale Kontakt haben, dass sie dem Fremden vollkommen unvoreingenommen begegnen können und dass sie da Freunde finden. Meine kleine Tochter hat jetzt entschieden, sie isst jetzt kein Schweinefleisch mehr. Das finde ich in Ordnung, dann essen wir eben mehr Huhn oder gar kein Fleisch. Das kam auch durch die Beeinflussung ihrer Kolleginnen.
Die zweite Ebene ist, dass ich auch gesellschaftlich sage: Wenn sich eine Gesellschaft in Ghettos bzw. in elitären und nicht elitären Kreisen versammelt, dann kann diese Gesellschaft sehr schnell kippen, auseinanderdriften. Eine Gesellschaft entscheidet sich, wo sie miteinander etwas aufbauen kann – und das ist im Augenblick hier in Weingarten!
Wo sich was bewegt, reibt es sich
Die Jugendlichen hier vom Jugendzentrum haben mal einen  Film über Weingarten gemacht. Die Menschen, die hier leben, haben sehr positiv  von Weingarten berichtet und gesagt, sie leben gern hier. Hier ist ein Park,  ein See, hier kann man baden im Sommer, man kann schön spazieren gehen und hier  ist diese tolle Menschenvielfalt. 
        Leute, die in der Stadt, außerhalb von Weingarten  interviewt wurden, haben von Kanaken, Drogen und Gewalt geredet. Mir ist in  diesen zwei Jahren all das nicht aufgefallen. Es gibt jeden Tag Schwierigkeiten  – dass der Junge wieder zu spät in die Schule kommt oder dass ich noch drei  Sachen erledigen muss und wieder irgendwo zu spät bin. Aber das sind keine  Schwierigkeiten, die ich dem Stadtteil zuordne. Das sind Alltagsprobleme. Ich  würde eher sagen, es gibt ein ungeheures Bewegungspotenzial –  mit all den Reibereien, die es dabei gibt,  denn wenn sich was bewegt, reibt es sich auch. Aber es ist ein Stadtteil, der sehr  stark lebt und das genieße ich. Das hat auch viel damit zu tun, wie ich mein  Leben verstehe. Ich möchte mich in einem lebendigen Umfeld verorten können und  das ist hier sehr interessant.
Die Menschen haben die Tendenz, immer auf was runter schauen zu müssen. Insofern ist es gut für die Stadt, dass es so was wie Weingarten gibt, wo die Leute sagen können: Das ist ja der Problemstadtteil und Gott sei Dank wohne ich ja da nicht. Aber es sagt für mich mehr über die Leute aus, die das sagen, als über den Stadtteil selbst.

      Graffiti vor der  Evangelischen Hochschule
Die Auswanderung nach Brasilien
Ich bin nach dem Studium nach Brasilien ausgewandert. Aber dieses Auswandern war schon vorher angelegt. Es gibt einen ganz entfernten Teil meiner Familie, die Anfang des letzten Jahrhunderts nach Lateinamerika ausgewandert sind. Sie wollten nicht im preußischen Heer dienen und hatten auch politisch hier nicht so die Beheimatung gefunden. Die vierte oder fünfte Nachfolgegeneration kam dann irgendwann hier nach Deutschland und war bei meinen Eltern zu Besuch. Da habe ich sie zufällig getroffen und sie haben mich eingeladen, ich könne doch mal bei ihnen Urlaub machen. Das habe ich dann nach dem Abi und während des Studiums auch gemacht. Brasilien hat mich damals schon sehr fasziniert, aber ich hatte immer ein Rückflugticket dabei. Nach dem Studium habe ich ein Stipendium bekommen, um dort einen Master zu machen. Aus einem Jahr wurden zwei Jahre und hinterher 17 Jahre in Brasilien. Was mich da verwurzeln ließ, war eine ganz tolle Projektarbeit, die mir so wichtig war, dass ich nichts anderes machen konnte. Deshalb habe ich alle meine Rückversicherungen in Deutschland gekappt und bin da eingestiegen. Das war eine Slumarbeit mit Frauen und Kindern, wo wir ein großes Kommunikationszentrum aufgebaut haben. Das konnte ich sieben Jahre begleiten, später habe ich auch darüber promoviert. Dann bin ich im Norden noch mal in den Bildungsbereich gegangen. Da hab ich meine Frau kennen gelernt, da haben wir unsere drei Kinder gekriegt. Aber wir wollten auch Europa nicht ganz verlieren. Meine Eltern konnten nicht mehr nach Brasilien fliegen und obwohl ich für brasilianische Verhältnisse ganz gut verdient habe, hätten wir uns nie eine Reise nach Europa leisten können. Dann kam ein Angebot, in Münster ein Projekt zu beginnen und so sind wir Anfang 2004 wieder nach Deutschland zurückgekommen.
Das Interview führte Anna Trautwein am 15.03.12
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